Flüchtlinge auf einem Foto aus dem Sudan als Artikelbild in Schwarz-Weiß. Darauf der Text: Flüchtlingstag - 70 Millionen Anklagen" | Photo © Tom Rübenach

Flüchtlinge | 70 Millionen Anklagen

Selbst wenn alle Flüchtlinge der Welt innerhalb der EU leben würden: dann wären sie weniger als vier Prozent der Bevölkerung. Von einer „Übervölkerung“ durch sie könnte also selbst dann keine Rede sein. Was wir ohnehin allzu oft vergessen: es sind keine Zahlen, über die wir sprechen. Es sind Menschen.

Flüchtlinge sind keine Zahlen, sondern Menschen.

Flüchtlinge klagen an

Kann sich hierzulande jemand vorstellen, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein? Jene sicher nicht, die in Deutschland nach 1945 geboren wurden. Sie haben niemals Krieg erlebt und keinen Hunger. In Westdeutschland gab es nicht „nur“ Frieden. Auch Freiheit seit der Verkündung des Grundgesetzes gab es noch obendrauf. Das ist das, was man freiheitlich-demokratische Grundordnung nennt. Geflüchtet sind DDR-Bewohner, für die Bürgerrechte nicht galten. Für sie war Freiheit nicht vorgesehen, ebenso wenig irgendwelche Menschenrechte. Schließlich war das SED-Regime ein Unrechtsstaat.

Fragt man Flüchtlinge, warum sie von zuhause geflohen sind, geben sie die unterschiedlichsten Antworten. Stichworte sind (siehe oben) ein Mangel an Menschenrechten. Die brutale Willkür des Heimatstaates, also keinerlei Rechtssicherheit. Fehlende Menschenrechte wie die Rede- und Versammlungsfreiheit werden genannt. Es könnten auch die Folgen des Klimawandels sein, für den vor allem die reichen Länder verantwortlich sind. Schließlich: geflüchtete Eltern sagen fast immer, dass sie ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen wollen. Das „Ihr sollt es einmal besser haben als wir!“ kennen wir fast alle. Gleichzeitig ist jeder dieser Gründe eine Anklage gegen uns.

Die wichtigste Fluchtursache sind wir selbst

Es sind natürlich nicht die Flüchtlinge, die uns aktiv anklagen. Sie haben anderes im Kopf. Davor müssen wir wohlhabenden Gesellschaften also keine Angst haben. Traumata plagen sie. Sie versuchen, die Familie zusammenzuhalten. Oder sie haben Träume. Aber anklagen? Dennoch wird jede und jeder Geflüchtete sui generis zu einer Anklage gegen unsere Lebensweise. Wir kümmern uns einfach viel zu wenig um unsere Nächsten auf anderen Kontinenten. Betrachten wir die Grafiken oben, die den dramatischen Rückgang von Asylanträgen zeigen, sind wir geneigt, regelrecht zu frohlocken. „Endlich scheint das Problem gelöst zu werden“, sagte mir unlängst jemand, den ich bis dato für einigermaßen intelligent und emphatisch gehalten hatte. Mein Fehler!

Denn ein Rückgang von Asylanträgen bedeutet ja keineswegs, dass wir einer „Lösung“ näher gekommen wären. Allzu oft wird das verwechselt: kommen wenige, scheint die Sache geritzt. Kommen viele, haben wir angeblich ein Problem. Erst dann, wenn tatsächlich viele in ihrer Heimat blieben: dann wären wir einer humanen Lösung möglicherweise näher als jetzt. Denn dann erst zeigte sich, dass die Lebensbedingungen von Menschen außerhalb unserer Wohlstandsmauern sich besserten. Davon sind wir aber weit entfernt. Andernfalls gäbe es nicht diese ungeheure Zahl: 70,8 Millionen Flüchtlingen weltweit.

Fluchtfakten über Flüchtlinge, bereitgestellt vom UNHCR. Grafik © zwozwo8
Fluchtfakten gegen Lügner. © zwozwo8

Eigentlich ist es einfach. Solange Deutschland weiterhin Waffen an Länder liefert, die sich im Krieg befinden, stimmt etwas nicht mit unserem Kodex. Wenn über „freien Welthandel“ fabuliert wird und immer nur die reichen Staaten untereinander gemeint sind, bedeutet das einen weiteren ökonomischen Niedergang der Dritten Welt. Solange wir uns als „Recycling-Weltmeister“ feiern, aber riesige Mengen an Plastik nach Asien verschiffen, lügen wir uns in die Tasche. Gleichzeitig belastet unser Wohlstandsmüll andere Regionen der Welt.

Wir „produzieren“ Flüchtlinge

Es besteht kein Zweifel, dass unsere Lebensweise dazu führt, dass Menschen anderer Länder sich zu uns aufmachen. Ich selbst würde auch nicht in einem Land bleiben, wenn ich dort nicht frei publizieren könnte. Niemand hielte mich in einem Staat, der mich uns Gefängnis würfe für drei Fotos einer Demonstration. Ich würde fliehen, hätte ich die Möglichkeiten dazu; mit oder ohne Pass, das wäre mir gleichgültig. Das Argument, dass wir nun einmal „nicht jeden aufnehmen“ könnten, führt am eigentlichen Kern des Problems weit vorbei.


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Ob wir das könnten oder nicht, ist nämlich gar nicht die Frage. Vielmehr ist es ein billiges Ablenkungsmanöver. Denn durch unser Unvermögen oder unseren Unwillen produzieren wir die Fluchtbewegungen selbst. Es geht um nicht weniger als konsequenten Klimaschutz, um Bildung für Menschen in afrikanischen und asiatischen Ländern und nicht zuletzt um deren Gesundheit. Wir Reichen sind kaum bereit, wenigstens auf einen Teil unseres Wohlstands zu verzichten. Weder teilen wir materiell sehr viel noch sparen wir Geld ein, weil wir beispielsweise auf einen Urlaub im Jahr verzichten wollen. Dabei wäre es einfach: ein Mal weniger einen Flug im Jahr – und schon stünde Geld für Bildung in armen Ländern zur Verfügung. Einen Verlust an Lebensqualität oder Luxus wäre für die meisten Deutschen damit nicht verbunden. Die eigentliche Fluchtursache sind wir also selbst.

Verantwortung statt Zynismus

Die Prediger des Hasses beschwören selbstverliebt die Traditionen des sogenannten „christlichen Abendlandes“. Das ist zynisch. Abschottungs- und Hassrhetorik hat mit den Idealen Jesus‘ nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Erst wenn es uns als reichen Staaten gelingt, die wirklichen Ursachen der Flucht zu beseitigen, werden die Zahlen wieder zurückgehen. Erst wenn es Gerechtigkeit auf diesem winzigen Erdball geben wird, werden die Zahlen der Flüchtlinge zurückgehen. Das wird aber nur dann gelingen, wenn die Reichen Verantwortung für die Armen übernehmen. Und wenn Sätze wie die folgenden einfach aus unserem Wortschatz gestrichen werden, wenn es um Afrika oder Asien geht: „Das kann man nicht miteinander vergleichen!“.

Doch, das kann man. Das muss man sogar. Denn nur so ist es überhaupt möglich, Gerechtigkeit in der Globalisierung zu denken. Und dann kann man es auch tun.

Titelblatt der Flüchtlinge - Geschichte: "Wo ist die Ziege, Mama?" von Thomas Schwarz
Lesen Sie hier diese Flucht-Geschichte.

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