Mehrere Steinkreuze auf dem Soldatenfriedhof in Bad Bodendorf.

Volkstrauertag | In welchem Frieden wollen wir leben?

Bei seiner Rede zum Volkstrauertag 2018 ging Thomas Schwarz auf den globalen Friedensbegriff ein. Auf dem Soldatenfriedhof in Bad Bodendorf (Rheinland) forderte er die Zuhörer dazu auf, “Globalisten” zu werden. Menschenrechte seien ohne Frieden nicht möglich, ebenso wenig umgekehrt. Die Globalisierung, wie wir sie lebten, bedeute in Wirklichkeit Krieg. Der Redetext zum Ausdrucken steht als als PDF zur Verfügung sowie zum Anhören (am Ende des Artikels).

Libanon, Kenia, Jordanien

Im März war ich in Nairobi, der Hauptstadt Kenias. Dort gibt es einen von über 300 Slums mit dem Namen Korogocho. Ich habe dort eine Initiative junger Leute kennengelernt. Sie arbeitet seit über zehn Jahren daran, vor allem das Leben von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Die Mitglieder dieser Initiative sind zwischen 17, 18 und vielleicht 33 Jahren alt.

Bei diesem Besuch im März habe ich die Team-Mitglieder der Initiative gefragt: Wie würdet ihr Kenia gegenüber jemandem beschreiben, der das Land nicht kennt? Und wie den Slum, Euer Dorf? Die Antwort hat mich tief beeindruckt.

Es hat nur Sekunden gedauert, bis Isaiah – einer der Jungs dort – sagte: „The most important is that we have peace.“ Das allerwichtigste für uns ist Frieden. Ich solle mich nur umschauen: Überall gebe es Unterdrückung, Gewalt, Krieg. Sie aber lebten in Frieden. Das sei das Allerwichtigste.

Er sagte „Frieden“ – und nicht Menschenrechte. Er hätte sagen können: das Menschenrecht auf Bildung beispielsweise oder das auf Gesundheit sei ihm das Wichtigste. Für ihn, der im Slum lebt, sind das nur Worthülsen. Ein Muster ohne jeden realen Wert. Es gibt für ihn und all die anderen diese Rechte nicht.

Ein kleines Kind, vielleicht drei Jahre alt, in einem Treppenhaus, das verängstigt schaut. © Tom Rübenach
Ein Kind im Slum Korogocho in Nairobi. © Tom Rübenach

Wie aber kann es sein, dass Menschen, die in bitterster Armut leben, den Wert des Friedens als solchen erkennen? Wir scheinen ihn verlernt zu haben. Dabei haben wir doch Beides: Wir leben in einem Frieden mit Menschenrechten in einer liberalen, demokratischen Gesellschaft.

Isaiahs Antwort hat mich auch an Begegnungen im Libanon und in Jordanien erinnert. Zu Beginn des Syrienkrieges (2011 und 2012) habe ich dort einige Male Flüchtlingslager besucht. Egal, was die Flüchtlinge auch sonst sagten: alle, die ich traf, wollten vor allem Frieden. Dann werde man schon weitersehen.

Das Geräusch einer detonierenden Bombe

Ich bin 12 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, 1957. Ich habe Krieg nicht erlebt. Obschon ich im Sommer 2006 in Beirut war, wo Israelis und die Hamas einen Krieg gegeneinander führten. Mit einer Gruppe internationaler Helfer war ich in dem sicheren Teil Beiruts untergebracht – da, wo keine Bomben fielen.

Dunkler Rauch steigt links im Bild hinter Hochhäusern nach einem Bombenabwurf der Israelis auf. Das war im Jahr 2006. © Tom Rübenach
Rauch steigt auf in Beirut 2006 © Tom Rübenach

An einem Abend jedoch saßen wir gemeinsam in einem kleinen Restaurant in Beirut; es war in der Nähe von Elian Masrys Wohnung. Elian ist Libanesin und unterstütze uns bei unserer Arbeit. Sie spricht arabisch, sie kennt Land und Leute. Ihre Wohnung und das Restaurant lagen nicht weit von der „bomb line“, also derjenigen Linie, in deren Nähe auch Bomben fielen. Sie wollte aber unbedingt, dass wir auch mal zu ihr, sozusagen „nachhause“, kommen sollten.

Und dann geschah, wovor wir alle Angst hatten: Nicht einmal einen halben Kilometer entfernt fiel eine Bombe. Ich hatte das noch nie erlebt, jedenfalls nicht so nah. Die riesige Glasfront des Restaurants bebte und bewegte sich und wir dachten, dass sie jeden Augenblick zerbersten würde. Wir sprachen kein Wort. Elian Masry lächelte. Sie hatte das in den vergangenen Wochen wieder und wieder erlebt.

Noch Monate später habe ich mich erschreckt, wenn irgendwo eine Türe zuschlug und dieses dumpfe Geräusch machte und mich an eine explodierende Bombe erinnerte. Boom – der Moment, in dem die Bombe die Erde trifft – und Menschen natürlich. Dieses Geräusch ist furchtbar.

In meiner Welt, in meinem Leben, bei mir zuhause hat es noch nie Krieg gegeben. Es ergreift mich, wie ungleich Frieden und Krieg und Menschenrechte auf der Welt verteilt sind.

Ohne Menschenrechte kein Frieden

Der heutige Bundespräsident Steinmeier in Beirut (Libanon) mit Thomas Schwarz (rechts). Photo: Auswärtiges Amt
Der heutige Bundespräsident Steinmeier in Beirut (Libanon) mit Thomas Schwarz (rechts). Photo: Auswärtiges Amt

Immer, wenn ich aus dem Nahen Osten oder Afrika oder Asien wieder nachhause komme von diesen Reisen, ist mir, als käme ich zurück in die Gegenwart und ließe die Vergangenheit hinter mir. Aber jedesmal ist es ein Trugschluss. Denn Armut und Unterdrückung und Diktatur und Krieg – all das hat nichts mit Vergangenheit zu tun. Gerechtigkeit und liberale Demokratie und Menschenrechte und Frieden: all das hat mit der Gegenwart in den meisten Ländern der Erde indes nichts oder nur sehr wenig zu tun.

Frieden – man könnte auch Menschenrechte sagen. Denn da, wo die Menschenrechte geachtet werden, gibt es auch Frieden – und Freiheit. In keinem Land gibt es positiven Frieden, in dem Menschenrechte nicht gelten.

Wir, hier in Europa, müssen den Wert des Friedens wieder neu lernen. Vor allem das, was er bedeutet. Nur ein wertegebundener Friede hat etwas mit Menschenrechten und liberaler Demokratie zu tun. Sonst ist er nicht echt. Dann dient er nur den Herrschenden und den Unterdrückern.

Es gibt also keinen Frieden ohne Menschenrechte. Das gilt nicht nur für Deutschland. Das gilt selbstverständlich auch für Kenia und Syrien und den Libanon oder Bangladesch.

Uns geht es so gut, dass wir sogar Extremisten wählen

Bei der Vorbereitung auf diese Rede habe ich mich gefragt: müssen wir sogar den Krieg wieder lernen? Ja, das müssen wir. Nicht, indem wir ihn führen. Natürlich nicht. Aber wir müssen wieder lernen, was Krieg bedeutet – und Flucht und Tote und Verwundete und Diktatur und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sonst geht uns unser Friede wieder verloren. Wir müssen den Wert und der Menschenrechte wieder erkennen lernen.

Unsere Schlachtfelder sind heute nicht mehr die von Verdun oder Stalingrad. Man könnte sogar sagen: wir haben gar keine mehr. Aber stimmt das?

Mit den Franzosen und den Polen sind wir heute befreundet. Das ist unglaublich angesichts der Geschichte. Auch, wenn die Regierungen in Warschau und Berlin derzeit alles andere als „entspannte“ Beziehungen haben: die Leute bleiben ja nicht nur Nachbarn, sondern untereinander nach wie vor Freunde.

In unserer kleinen, schönen, friedlichen Welt haben wir es uns ziemlich bequem eingerichtet. Uns geht es so gut, daß wir sogar Extremisten wählen, die mit unserer freiheitlichen Gesellschaft nichts am Hut haben und sogar den Hitlergruß zeigen. Als „Denkzettel“. Müssten wir uns aber nicht häufiger selbst mal einen verpassen?

Wir müssen „Globalisten“ sein

Sicher: wir könnten uns fragen: Wenn es bei uns keine Kriege mehr gibt, die wir führen und unsere Nachbarn längst auch unsere Freunde geworden sind; wenn es uns hier gut geht und wenn wir es geschafft haben, in der längsten europäischen Friedensperiode der Geschichte zu leben: was gibt es dann überhaupt noch für große Aufgaben?

Die Antwort ist einfach. Um sie zu erkennen, müssen wir nur unseren verengten Blick weiten. Ich versuche das in den Worten von Joachim Gauck. Er sagte an einem anderen Volkstrauertag:

“Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben und derer, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft ihr Leben verloren – oder als Vertriebene — oder als Flüchtlinge.”

Da ist sie wieder, die Gegenwart: All das, was da Joachim Gauck sagt: das betrifft eben nicht nur die Vergangenheit. Gedenken hat immer auch mit der Gegenwart und vor allem mit der Zukunft zu tun.

Wer behauptet, für den Frieden zu sein und für die Menschenrechte, der muss heute Globalist sein – oder es werden. Wirklich für Frieden zu sein bedeutet, für globalen Frieden einzutreten. Und das heißt: für einen echten Frieden, der auch den Menschenrechten zur Geltung verhilft.

Die „Internationale Erklärung der Menschenrechte“ wurde vor fast siebzig Jahren von den Vereinten Nationen verabschiedet. Jedes Mitglied hat ihnen zugestimmt, wir, die Russen, die Chinesen, die Südafrikaner, die Inder.

In welchem Frieden wollen wir leben?

Wenn wir uns aber die vergangenen sieben Jahrzehnte ansehen, müssen wir doch konstatieren: in den wenigsten Staaten galten oder gelten die Rechte auf Meinungsfreiheit, körperliche Unversehrtheit, auf Nahrung, auf soziale Sicherheit. Und auch nicht das Recht auf Asyl. Und auch nicht das auf Religions-, Versammlungs, – oder Informationsfreiheit. Oder das Recht auf Bildung. Nicht einmal das Recht auf Leben.

Ist das ein Zustand des „Friedens“, den wir akzeptieren, einfach so hinnehmen können – wenn es uns nur gut geht? Oder wenn es nur uns gut geht? Nein, das ist natürlich vollkommen inakzeptabel. Und weil es nicht akzeptabel ist, müssen wir uns immer wieder die Frage stellen: in welcher Welt wollen wir eigentlich leben?

Oder, genauer: in welchem Frieden wollen wir eigentlich leben?

Die Tragödie unseres Reichtums

Ein verdreckter Fluss, der in der Ferne eine Biegung macht. In diesem Fluss waschen Frauen aus dem Slum ihre Wäsche. © Tom Rübenach
Frauen waschen ihre Wäsche im verdreckten Nairobi River. © Tom Rübenach

Meine deutsche, europäische Erfahrung ist die: Wir nutzen gern alle Vorteile der Globalisierung: wir essen Kiwis aus Neuseeland und tragen T-Shirts aus Bangladesch. Wir fliegen zur Safari nach Kenia oder in die Sonne auf die Malediven. Wir freuen uns auf unser Auslandssemester in Australien und unsere Bildungsreise zu den Azteken in Mexiko. Gegen all das ist im Grunde nichts einzuwenden.

Doch ist diese Globalisierung nicht gerecht. Es ist keine faire Globalisierung. Weil ja fast ausschließlich diejenigen von ihr profitieren, denen es ohnehin schon gut geht. Also wir. Diese Globalisierung steht für Chancen-Ungleichheit und hat nichts mit der fairen Realisierung von Menschenrechten zu tun.

Diese Globalisierung bedeutet in Wirklichkeit Krieg. Denn sie wird mit Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung erzwungen – und durchgesetzt. Sie ist zutiefst unfriedlich. Diese weltweite Ungerechtigkeit also, diese unfaire Globalisierung: sie ist zugleich die Tragödie unseres Reichtums.

Unser „globales Dorf“ muss gerechter werden

Wer aber einen gerechten Frieden will, – man könnte auch sagen: Frieden und Menschenrechte – der muss sich das Leitmotiv dieser Gedenkstunde zu Herzen nehmen. „Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden.“ Für mich ist dieses Gebot, diese Aufforderung eine der beeindruckendsten Aussagen des ganzen Christentums.

Ich bin kein Theologe, deshalb ersetze ich „Haus“ durch „Welt“ und „Gebet“ durch „Frieden“. Und ich würde es anders betonen als man es normalerweise tut. Jesus würde dazu hoffentlich zustimmend nicken:

„Meine Welt soll eine Welt des Friedens genannt werden.“ Anders ausgedrückt, in den Worten Nelson Mandelas: “Die Armut zu überwinden ist keine Frage von Almosen oder Wohltätigkeit. Es ist ein Akt der Gerechtigkeit.”

Im Koran übrigens (in der Sure al-Ma’ida 48) werden die Gläubigen zu einem regelrechten Wettbewerb aufgerufen. Dort heißt es: „Konkurriert miteinander, wenn Ihr Gutes zu tun.“

Wir müssen zu mehr Gerechtigkeit und Fairness beitragen. Nicht nur zuhause. Hier, bei uns, in Deutschland oder hier im Kreis Ahrweiler: hier gibt es gewiss auch noch viel zu tun.

Dennoch: Wir müssen ständig, viel überzeugender, viel tatkräftiger unserem christlich geprägten Kontinent gerecht werden. Unserem „christlichen“ Abendland.

Wir müssen unsere Welt, unseren Globus, unsere Erde, unser kleines „globales Dorf“ gerechter gestalten. Menschengerechter.

Ich finde, das ist unsere Pflicht.


Hier kann man die Rede als PDF herunterladen.


Wer sich die Rede anhören möchte, kann dies hier tun und einfach unten auf den “Play-Button” klicken.

Es geht um Cookies. Sie kennen das. Wenn Sie da raus wollen, klicken Sie sie einfach weg. Hier klicken um dich auszutragen.