Europa-Fahne

“Off topic” | Die EU ist gefährdet, nicht Europa

ToS | 11. März 2016 Irgendwann in den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts, so erzählte unser Vater, war er in Frankreich. Er war damals ein junger Mann, 1928 geboren und sechszehn gewesen, als der Krieg zu Ende ging. “Ich habe damals mit einem alten Franzosen zusammengesessen, und wir haben über die Geschichte unserer beiden Länder gesprochen.” Er meinte auch über Europa. Mein Vater, so berichtet er, habe damals zu dem Franzosen sinngemäß gesagt: “Jetzt sind es schon acht Jahre, daß der Krieg zu Ende ist.” Daraufhin habe der Franzose ihn angesehen und gefragt: “Schon?” Um nach einer kurzen Pause nachzusetzen: “Erst, es sind erst acht Jahre.”

Diese Geschichte hat mich vielleicht am meisten von allen beeindruckt, die unser Vater uns erzählt hat, und es gibt viele davon. Sie zeigt so grundverschiedene Perspektiven, obwohl sie von zwei Menschen stammen, die doch ein gemeinsames Ziel hatten: Nie wieder Krieg! Nach all den Millionen Toten, den Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich, den brutalen Überfällen auf Polen, Russland, der Ermordung von Juden, Schwulen, Sinti, Roma und all den anderen. Für den einen war der Krieg schon, für den anderen erst acht Jahre vorüber.

Zwei Völker, die selben Überzeugungen

Deutschland und Frankreich: zwei Völker, die sich jahrhundertelang bekriegt hatten. Nicht erst der Zweite Weltkrieg, auch der Erste steht bis heute für unglaubliche Barbarei, für zahllose Opfer auf beiden Seiten. Das Ziel konnte und kann also nur sein, Europa zu bauen und Europa zu zähmen. Die Zugmaschinen dieses historischen Gigaprojektes sind Frankreich und Deutschland. Sie sind der Nukleus des ganzen Projektes. Kanzler und Präsidenten mögen sich besser oder schlechter verstanden oder in Einzelfragen ganz unterschiedliche Meinungen gehabt haben; immer dann, wenn es “um’s Ganze” ging, zogen Paris und Bonn oder Berlin an einem Strang.

Kommunizierende Röhren © Tom Rübenach | 2016
Kommunizierende Röhren © Tom Rübenach | 2016

Natürlich haben auch die Benelux-Staaten, Italien und andere ihre wichtigen Beiträge geleistet. Dennoch blieb es vorwiegend der beiden großen Staaten Verantwortung, immer wieder ein neues gemeinsames Stück voranzugehen. Sie betrieben die kommunizierenden Röhren, den Motor, die Dynamik. Aus den Überzeugungen ihrer Lenker entstand die gigantische europäische Idee. Seit 1945 und besonders nach dem Fall der Mauer und der kommunistischen Regime ist Europa größer und bunter geworden. 28 Staaten gehören nun der Europäischen Union an. Mit einem Gerichtshof, einem Parlament, einer gemeinsamen Währung. Fast könnte man sagen: mit einer EU-Regierung, der Kommission.

Die EU (nicht Europa) setzt Schimmel an

Das sind ungeheure Entwicklungen auf einem Hass- und Kriegskontinent, der Europa über Jahrhunderte hinweg stets war. Wenige machen sich das bewusst, obschon sie die Früchte Europas vier Jahreszeiten lang ernten, jedes Jahr von Neuem. Vor allem jene, die nie Krieg erlebt haben, aber immer Demokratie (jedenfalls dann, wenn sie auch noch das Glück hatten, im westlichen Teil des Kontinents leben zu können). Und nun, irgendwie ganz unvorbereitet, steht “Europa” angeblich überall zur Debatte. Nicht nur die Medien überschlagzeilen sich, das Publikum stellt mit der Sucht nach sich selbst erfüllender Prophezeiung irritierende Fragen. Ob “Europa noch zu retten” sei und ob “Schengen vor dem Scheitern” stehe. Da wird das Bild eines blutleeren Raums gemalt, der Schimmel angesetzt hat und kaum noch zu reparieren ist. Durch die gerissenen Fenster wirft die Sonne allenfalls Schatten hinein, wärmt aber nicht mehr.

Kaum eine Woche vergeht, in dem nicht der grinsende HartUndUnfair-Typ vom WDR oder die hektisch dazwischenredende ZDF-Dame und andere die Existenzfrage des Kontinents hochpuschen. Okay, die Quote. Verstehe. Und nein, keine Sorge: Es geht nicht um Medienbashing. Es geht um historische Realitäten und den Versuch, die Begriffe wieder gerade zu rücken. Über siebzig Jahre (welt)kriegsfrei, Demokratien und Gesellschaften, in denen die Würde des Menschen – jedenfalls prinzipiell – geachtet wird. Es ist nicht die Europäische Union, in die Menschen aus Syrien, dem Irak, aus dem Jemen oder Kurdistan fliehen, aus Eritrea, dem Jemen oder Saudi-Arabien. Sie fliehen ins Projekt Europa. Sie erhoffen sich hier, was wir selbst kaum mehr wahrnehmen, aber existiert. Europa steht für soziale Gerechtigkeit, für freie Meinungsäußerung, für Toleranz gegenüber Ausländern, Migranten, Schwulen und Lesben, Muslimen, Christen, Juden und Sinti und Roma. Für Menschenrechte.

Keine betenden Hände © Tom Rübenach
Betende Hände © Tom Rübenach

Ein Oxymoron par exellance

Gewiss, an allen Ecken und Enden gibt es Baustellen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Schlechte Bildungschancen für immer noch zu viele. Es gibt diese Baustellen; das ist keine Frage. Daran wird gearbeitet. Nicht nur in Deutschland, fast überall, auch wenn die Baustellenschilder nicht immer sichtbar sind. Auch das gehört mit zu den Gründen, warum Menschen gerade hierher fliehen: Möglichkeiten der Diskussion, der Teilhabe an der Zivilgesellschaft – ohne dafür ausgepeitscht zu werden oder die Arbeit zu verlieren. Dafür steht Europa.

Soziale  und allgemeine Menschenrechte sind Prinzipien, die christliche Wurzeln haben und durch die Aufklärung sowie die Erfolge der Französischen Revolution heute indiskutabel sind. Die christliche Soziallehre von Nell-Breuning gilt heute ebenso wie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wie ein Gesetz. Man könnte also sagen:  das macht das “Christliche Abendland” aus. Jenes, welches angeblich so bedroht wird von der “Islamisierung”. Welch ein Oxymoron! Ausgerechnet jene, die sich auf das Christentum berufen, gefährden hassend und hetzend die europäische Idee. Gerade die Länder, die sich vom spießbürgerlichen Mief ihrer Plattenbauten und den Fesseln der Unterdrückung befreit haben – gerade die sind es jetzt, die die europäische Idee infrage stellen. Darauf kann es nur eine Antwort geben, soll nicht das ganze europäische Projekt gefährdet werden: Hinaus mit ihnen!

Hinaus mit den Antieuropäern!

Europa ist nicht gefährdet, allenfalls die EU ist es. Ihr Scheitern wäre auszuhalten. Mögen jene Regierungen ihren Völkern mitteilen, dass sie nicht mehr wollen, was in den Römischen Verträgen steht. Dass sie das Völkerrecht gerne bögen, hülfe es auch nur dabei, nicht einen einzigen muslimischen Flüchtling aufnehmen zu müssen. Dann mögen die Völker darüber befinden. Diese uneuropäischen Regierungen drohen Medien und verhaften Journalisten, die nur ihre Arbeit machen. Sie zerbrechen Verfassungen, um Gerichte zu domestizieren. Kaum kommen ein paar mehr Flüchtlinge als üblich und bedrohen die Ruhe ihrer demokratischen Friedhöfe, bellen sie. Aus purer Angst. Sie sind erbarmungslos unchristlich, weil sie Frauen nötigen, ihre Kinder im Schlamm vor ihren europäischen Grenzzäunen zu entbinden. Nein, mit ihnen wird Europa nicht gut weitergehen.

Empty rooms? © Tom Rübenach | 2015
Empty rooms? © Tom Rübenach 2015

Mögen sich diejenigen, die lieber die Hand von Diktatoren wie Putin als die von Frau Merkel schütteln, davonmachen! Mögen sie sich ihre eigene Hütte mit jenen bauen, die ebenso hässlich gegen meine Ideale einer europäischen Idee verstoßen! Ich will sie nicht, habe mit ihnen und ihren politischen Vorstellungen nichts gemein. Sie sind undemokratisch, intolerant, wahrhaft uneuropäisch. Mögen sie reinrassig werden, wenn ihre Völker ihnen folgen. Die dies nicht wollen: Willkommen in Europa!

Lasst uns lieber wieder auf den Kern Europas konzentrieren, politisch, freiheitlich, tolerant – auch geographisch. Fokussiert auf diesen Kern wird uns Europa nie verlassen, und wir werden Europa nie verleugnen. Alles andere ist Wirtschaft, Ökonomie, Subventionen. Das kann man mit Verträgen regeln. Mit oder ohne Grenzzäune. Unhistorisch mag sich lesen, was dort jetzt steht, als uneuropäisch von manchen gescholten werden. Mag ich gescholten werden, vor allem mag ich eins nicht mehr: Teil einer Gemeinschaft sein, in denen sich die Órbans dieses Kontinents auf Gott berufen und dabei Menschen verachten.

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